12 KiB
title | images | |
---|---|---|
Der Coronavirus und die planetarische Krise der Umwelt |
|
Questo documento ha una versione in italiano:
There is a version of this document in English:
Ökologische Wurzeln der Pandemie
Wie der Epidemiologe Dennis Carroll beschreibt, zeigt die laufende Forschung der EcoHealth Alliance, einer Organisation zum Schutz der Tierwelt und der öffentlichen Gesundheit vor dem Auftreten von Krankheiten1, dass in den letzten vier Jahrzehnten ein zwei- bis dreifacher Anstieg der zoonotischen Sprünge der Viren vom Tier auf den Menschen zu verzeichnen war.2 Die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Epidemien wie dem Coronavirus ist einerseits eine Folge der raschen Ausdehnung der industriellen Landwirtschaft und des industriellen Ackerbaus auf Wildtierhabitate. Andererseits hat sie mit einem zunehmenden Einbezug wild lebender Arten in kapitalistische Warenketten zu tun.3 Es sind die Zonen an der Schnittstelle von zurückgedrängten Wildtiergebieten und der vordringenden Landwirtschaft, die zoonotische Sprünge von Wildtieren auf Nutztiere befördern (wobei Flughunde einen besonderen Beitrag leisten).4 Von diesen Zonen aus verbreiten sich die Viren auf die menschliche Bevölkerung. Die Übertragung von Viren von industriell gezüchteten Tieren wie Schweinen, Geflügel und Dromedaren zum Menschen waren die Ursache für Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS, MERS, H5N2- und H5Nx-Grippeepidemien.
Geschädigte Ökosysteme, deren Komplexität zugunsten industrieller Landwirtschaft und Monokulturen reduziert wurde, haben eine geringere inhärente Fähigkeit, die Ausbreitung von Epidemien unter den wildlebenden Arten zu verhindern. Daher wird erwartet, dass die planetarische ökologische Destabilisierung – eine Kombination aus Klimawandel, Landnutzungsänderung und biochemischen Rissen – zunehmend neue Krankheitserreger hervorbringen wird. Das Stockholmer Resilienz-Institut hat als Indikatoren für diese Destabilisierung unter anderem neuartige Entitäten vorgeschlagen. Zu ihnen gehören etwa: vom Menschen hergestellte, nicht lebende Materialien und Lebewesen wie synthetische Schadstoffe, radioaktive Materialien, Nanomaterialien, Mikrokunststoffe oder genetisch veränderte Organismen. In diese Kategorie lassen sich auch die mutagenen Viren einschließen, die aus den durch die industrielle Landwirtschaft geschaffenen Bedingungen entstehen.
Umweltfolgen der Pandemie
In den ersten Tagen der Abschottung von Hubei machten Satellitenbilder der NASA die Runde. Sie deuteten darauf hin, dass die Einstellung der industriellen Produktion und die Reduzierung des Verkehrs sowohl die Luftverschmutzung radikal reduziert wurde. Als eine mögliche Folge dieser Entwicklung wurde die Rettung von bis zu 77'000 Menschenleben genannt.5 Große norditalienische Städte wie Mailand, die für ihre schlechte Luftqualität berüchtigt sind, haben ebenfalls einen radikalen Rückgang der Verschmutzung erlebt.6 Nach der ersten (nur scheinbar völlig irrationalen) Entscheidung der Fluggesellschaften, ihre Flugfrequenzen auch ohne Passagiere hoch zu halten, bleiben nun ganze Verkehrsflugzeugsflotten am Boden. Die Luftverschmutzung, die durch die Verkehrsluftfahrt entsteht, ist die weltweite Ursache für 16'000 (vermeidbare) Todesfälle jährlich.7 Die Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität während des Ausbruchs wird sich zwangsläufig auch auf die Senkung der globalen Treibhausgasemissionen auswirken. Und die geringere Luftverschmutzung führt zu einer besseren Genesung von Corona-Fällen.
Die Verringerung der Verschmutzung und der Emissionen, die aus dem Zusammenbruch und nicht aus einem politisch getriebenen und partizipatorischen Prozess resultiert, ist jedoch nichts, was bejubelt werden sollte. Das Abwägen der relativen Zahl von Toten ist ein verkappter Malthusianismus.8 Wenn die Welt sich von der Krise erholt hat, werden die umweltschädlichen Muster des kapitalistischen Produktionssystems ungebremst zurückkommen. Darunter werden verwundbare Gemeinschaften leiden müssen. Tatsächlich liefern sich Saudi-Arabien und Russland bereits einen Preiskrieg, indem sie immer mehr billiges Öl auf den Weltmarkt bringen. Die Angebotsmenge übersteigt bei weitem das, was unter den Bedingungen der reduzierten Nachfrage derzeit benötigt wird. Sobald sich der COVID-19-Ausbruch verlangsamt, könnte die Welt mit billigem Öl überschwemmt werden. Dies würde die Emissionsreduzierung während des Pandemie-Ausbruchs sehr bald wieder zunichtemachen. Um es kurz zu machen: ein nachhaltiges und gerechtes Leben für alle verlangt nach Politik und nicht nach einem Zusammenbruch.
Lehren für die Umwelt, die aus der Pandemie gezogen werden können
Die Krise schafft auch die Möglichkeit zu überdenken, wie unsere Produktions- und Konsumsysteme organisiert sind und wofür. Radikale Forderungen nach einem koordinierten Management der sozialen Anpassung; massive Anstrengungen zur Rettung von Menschenleben; die kollektive Bereitschaft, die Organisation unseres Lebens zu ändern; eine radikale Umverteilung und die Bereitwilligkeit, die Unsicherheit angesichts der Tragödie zu akzeptieren, scheinen überraschend möglich. Die TINA-Doktrin scheint plötzlich, wenn auch nur für einen Moment, auf einen lächerlichen historischen Fetisch einer Gruppe von Soziopath_innen reduziert zu sein: Sie haben von der Selbstgefälligkeit einer ausgedehnten Friedensperiode und dem wachsenden Wohlstand profitiert, um sich mit ihrer Klasse willentlich einem sozialen Experiment hinzugeben. Einem Experiment, bei dem das Leben von Menschen unter die Räder der Wiederherstellung von Profiten geworfen wird.
Aus der gegenwärtigen Pandemie haben wir bereits einige wertvolle Lehren für den ökologischen Übergang ziehen können:
- Langfristig hat das Leben Vorrang vor der kurzsichtigen Wirtschaft.
- Reaktionen auf massive Bedrohungen von Menschenleben können nur sozial geplant und gehandhabt werden.
- Ein Mangel an globaler Zusammenarbeit kann die Bedrohung noch verstärken (kann aber zum Bumerang werden, wie die Trump-Administration oder die EU jetzt herausfinden).
- Ein wichtiger Pfeiler der Bedrohungsbewältigung ist die Rücknahme der Kontrolle über privatisierte Sozialdienste und Infrastruktur.
- Unternehmen können dazu gedrängt werden, sich dem von der Regierung auferlegten Management zu unterwerfen, wenn ihr Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist, und sie können dazu gezwungen werden, für soziale Bedürfnisse zu produzieren.
- Die Steuerpolitik ist ein wesentliches Instrument zur Steuerung der sozialen Anpassung.
- Die Versorgung mit Wohnraum, Nahrung und Gesundheit kann sozialisiert werden.
- In kritischen Momenten erweist sich die Arbeit der sozialen Reproduktion, die ansonsten im Hintergrund steht, unsichtbar gemacht wird und als wirtschaftlich zweitrangig gegenüber der Produktion ersetzbarer Dinge angesehen wird, als wesentlich und am wertvollsten für die Gesellschaften.
- Die Menschen sind bereit, massenhaft zu dieser Arbeit der sozialen Reproduktion beizutragen.
- Muster des täglichen Lebens können sich angesichts einer massiven Bedrohung über Nacht radikal ändern und von der Bevölkerung angenommen werden.
- Entscheidend für eine radikale Veränderung ist es, wie die nun mobilisierte menschliche Fähigkeit zu sozial sinnvoller Arbeit und geselliger Freizeit organisiert werden kann.
Es gibt offensichtliche Parallelen zwischen der globalen ökologischen Destabilisierung und der Coronavirus-Pandemie. Beides sind scheinbar unsichtbare Prozesse – mehr Behauptungen von Wissenschaftlern als gelebte Realität – bis sie durch den Verlust von Menschenleben und den Zusammenbruch bisher unveränderlich scheinender Lebensweisen schmerzlich empfunden werden. Doch die globale Umweltdestabilisierung ist geographisch und zeitlich sehr ungleichmäßig verteilt. Die Wohlhabenden werden zunächst mehrheitlich in der Lage sein, die unmittelbare Bedrohung begrenzen, während die Armen der südlichen Hemisphäre bereits jetzt unter den Effekten leiden. Aber zu gegebener Zeit wird niemand der rasanten Destabilisierung der planetarischen Ökosysteme entgehen. Der Zeitrahmen für die Maßnahmen wird nicht in Wochen, sondern in Jahren und Jahrzehnten gemessen.
Mit der Wende in der sozioökonomischen Doktrin und dem neu erwachten Sinn für das Mögliche können wir die aktuelle Situation als Chance betrachten, um die Bedingungen der politischen Debatte angesichts langfristiger Bedrohungen neu zu bestimmen und kollektive Maßnahmen zu organisieren. Dies, um auf eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu drängen, die Leben und Ökosysteme retten kann. Was jetzt geschieht, ist eine drastische Abweichung vom politischen Status quo, die zeigt, dass Menschenleben wichtiger sind als kapitalistische Akkumulation. Wenn die Menschen die Krise verstehen können, die sich in einem plötzlichen Anstieg der Virusausbreitung niederschlägt, dann sollten wir jetzt mehr denn je in der Lage sein, uns die Krise vorzustellen, die durch die langsame und noch tödlichere ökologische Destabilisierung ausgelöst wurde. Es hat sich gezeigt, dass eine radikale, sozial gesteuerte Transformation möglich ist. Sie muss jedoch dringend stattfinden. Und sie muss auf der Basis der sozioökonomischen Schwierigkeiten geschehen, die die Pandemie hinterlassen wird.
Weiterführende Ressourcen
Texte, auf die in dieser Session verwiesen wird, werden in den Fussnoten geführt.
- Robert G. Wallace, Rodrick Wallace (eds.): "Neoliberal Ebola: Modeling Disease Emergence from Finance to Forest and Farm"
- Robert G. Wallace: "Big Farms Make a Big Flu"
- What would happen if the world reacted to climate change like it’s reacting to the coronavirus?
- Can Capitalist Reform Save The Environment?
Fussnoten
-
Robert G. Wallace: "Coronavirus: »Agribusiness would risk millions of deaths.«", Robert G. Wallace: "Big Farms Make a Big Flu" ↩︎
-
"Study: Coronavirus Lockdown Likely Saved 77,000 Lives In China Just By Reducing Pollution" ↩︎
-
"Coronavirus Causes Decline in Air Pollution Across Northern Italy" ↩︎
-
"Aircraft emissions ‘responsible for 16,000 deaths per year’"" ↩︎
-
Eric Holthaus: "No, the coronavirus is not good for the climate" ↩︎